Im Rhythmus der Stadt

Es macht Sinn, ernsthaft über die Standortfrage nachzudenken. Leben Sie in einer Stadt, deren Rhythmus zu Ihnen und Ihrem bevorzugten Lebensmodell passt?

Frankfurt ist eine Stadt mit mehreren Hunderttausend Tages- und Wochenpendlern. Ein Freund beschreibt den über das Pflaster rollenden Koffertrolley als den „Sound der City“. Fest steht: unter der Woche sind hier gefühlt alle unterwegs und in Bewegung. Das gibt Frankfurt ein sehr lebendiges Flair – ein Rhythmus, bei dem man einfach mit muß! Manch einer, der Frankfurt erlebt, findet diesen Rhythmus anstrengend. So hat die Stadt eine sehr polarisierende Wirkung: die einen lieben Frankfurt für seine quirlige Atmosphäre, andere sind genervt davon und froh, sobald sie wieder das Weite suchen können.

Entschleunigt durch die City

Was hilft, sind Oasen des Rückzugs: Ich selbst habe mir über die Zeit von 18 Jahren einige Lieblingsplätze geschaffen wie das L’Atelier des Tartes, in dem ich nicht nur gern guten Kaffee trinke sondern auch in entspannender Umgebung arbeite. Überraschenderweise hat Frankfurt neben gemütlichen Cafés auch ein sehr grünes Umland, das kleine Stadtfluchten im Alltag erlaubt.

Dennoch habe ich an mir selbst in den vergangenen Jahren eine Art unterschwellige Unzufriedenheit beobachtet. Immer öfter beschlichen mich die Gedanken „Raus aus der Stadt.“. Was mich hielt, waren neben meinen privaten Kontakten die kurzen Wege zu meinen Kunden, die unschlagbar gute Erreichbarkeit Frankfurts als zentraler Verkehrsknotenpunkt in Europa und natürlich die vielzähligen beruflichen Anknüpfungspunkte, die das Rhein-Main-Gebiet bietet.

Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere ist die ständige Getriebenheit, die das Leben in dieser Stadt vermittelt und tatsächlich der Lärm, der mit der Betriebsamkeit auf der Schiene, der Straße und in der Luft einhergeht. Immer öfter ertappte ich mich dabei, dass ich tief durchatmete, sobald ich dies alles hinter mir lassen konnte. Der Wunsch nach mehr Ruhe und weniger Tempo wurde mit der Zeit immer stärker.

Ich beobachte in meiner Beratungspraxis bei etlichen Klienten eine wachsende Sehnsucht nach Rückzug, nach Erholung und Stille. Häufig geht es ihnen um mehr Qualität in ihren Beziehungen: sie wünschen sich ausreichend Zeit für ihre Partner und Kinder, aber durchaus auch für ihre Kollegen, Kunden und Klienten. Dieses Bedürfnis nach „mehr Zeit“ wirkt oft wie eine ausgleichende Gegenreaktion auf zu lange Arbeitszeiten und einem durchgehend hohen Aktivitätsmodus: viele Menschen sind beruflich wie privat extrem eingespannt, hetzen von einem Termin zum nächsten und finden kaum noch zu sich selbst.

Die Flucht vor sich selbst

Eine Stadt wie Frankfurt bietet genügend Ablenkungsmöglichkeiten von den eigenen Bedürfnissen. Wer ständig unterwegs ist, meint die eine spannende Veranstaltung oder das andere hippe Event mitnehmen zu müssen, kann lange vor sich selbst davon laufen. Viele Menschen bemerken häufig erst dann, wenn wichtige Beziehungen zerbrechen oder sie sich selbst überfordert haben, dass sie schon lange in einem Hamsterrad laufen. Im schlimmsten Fall sind ihnen überdies der Sinn und das Ziel ihres Handelns entfallen. Dann setzt die Erkenntnis ein, dass Zeit nicht zurückgeholt werden kann, dass sie nur ein einziges Mal einsetzbar ist. An diesem Punkt findet ein Umdenken statt, es entsteht ein neues Qualitätsbewusstsein.

In der Folge treten diese Menschen wortwörtlich auf die Bremse: sie reduzieren ihre Arbeitszeit, verabschieden sich von Projekten oder beruflichen Zielen, lösen sich aus belasteten Beziehungen usw.. Auf der anderen Seite gewinnen sie Zeit und Freiraum für die Menschen und Dinge, die ihnen wirklich wichtig sind. Immer mehr Menschen stellen auch ihren Wohnort in Frage. In einer Kolumne beschreibt der Schriftstellerin Julie Zeh die Vorstellung vom idyllischen Landleben als „… eine neue Aussteigerfantasie, welche die exotische Ferne abgelöst hat.“

Kleine und große Stadtfluchten

Das ländliche Umfeld erscheint auf den ersten Blick als entschleunigte Alternative zum hektischen Stadtleben. Allerdings birgt es seine eigenen Herausforderungen, wie zum Beispiel lange Fahrwege zur Schule bzw. zum Arbeitsplatz, die echte Zeitfresser sind. Dazu kommen weniger Einkaufsmöglichkeiten oder fehlende kulturelle Einrichtungen, von der anderen Art des nachbarschaftlichen Miteinanders ganz zu schweigen.

Wer Ausstiegs-Phantasien hegt, tut gut daran, die zugrunde liegende Motivation gründlich zu prüfen. Nach meiner Erfahrung verbirgt sich hinter dem Wunsch, an einen anderen Ort und/oder in einem ruhigeren Umfeld zu leben, vor allem die Überlastung in anderen Lebensbereichen: überlange Arbeitszeiten, Unzufriedenheit im Beruf, zu viele private Projekte oder überzogene Anforderungen aus dem privaten Umfeld. All dies sind Punkte, die unabhängig vom Lebensmittelpunkt bestehen. Es ist wichtig, diese separat zu betrachten, denn im Zweifel nehmen Sie die hierin bestehenden Problemlagen bei jedem Umzug mit.

Erst wenn Sie derartige Aspekte für sich ausschließen können, macht es Sinn, ernsthaft über die Standortfrage nachzudenken. Leben Sie wirklich in einer Stadt, die  zu Ihnen und Ihrem bevorzugten Lebensmodell passt? Letzteres kann sich übrigens durchaus im Laufe der Zeit verändern. In der Arbeits- und Familienphase bestehen häufig  ganz andere Anforderungen an den Wohnort als während des Studiums oder mit zunehmenden Alter.

Überdies führt die zunehmende Mobilität dazu, dass langjährige Freundschaften und Beziehungen häufiger über die Entfernung hin gehalten werden. Anders noch als unsere Eltern- und Großelterngeneration leben heutzutage die Mitglieder einer Familie nicht mehr unbedingt an ein und demselben Ort, sondern weit verstreut in der Weltgeschichte. Man mag diese räumliche Distanz bedauern, doch gleichzeitig geht damit eine größere Freiheit bei der persönlichen Standortwahl einher.

Reflexionsfragen

  • Leben Sie in der Stadt, die zu Ihnen passt?
  • Haben Sie häufiger Aussteiger-Phantasien?
  • Welche aktuellen Problemlagen sind abhängig von Ihrem Standort?
    Welche würden bestehen bleiben, egal wo sie leben?
  • Befinden Sie sich am Übergang zu einer neuen Lebensphase?
    Wenn ja: Passt der bisherige Wohnort noch zu Ihnen?
  • Wie könnten Sie auch ohne einen Umzug mehr Ruhe in Ihr Leben bringen?

Inspired by ZEIT online-Magazin ze.tt „Woran es liegt, dass uns eine Stadt glücklich macht – oder fertig.“

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