Der ständigen Verfügbarkeit entgegenwirken
Seit Beginn meiner Selbständigkeit steht immer wieder die Lebensrealität von Frauen im Fokus meines Engagements. Irgendwann, im Laufe der Jahre, haben mehrere Schlüsselerlebnisse dazu geführt, dass ich die strukturellen Rahmenbedingungen in den Blick nahm, um die Resilienz von Frauen zu stärken und der ständigen Verfügbarkeit entgegen zu wirken.
Soziale Isolation als Gefahr
Eines dieser Erlebnisse war eine junge Mutter in einem meiner Rückbildungskurse, die kurz nach der Geburt ihres 2. Kindes mit einem Burnout in eine Klinik eingeliefert werden musste. Unter der Woche war sie quasi alleinerziehend: Ihr Mann war als Unternehmensberater von Montag bis Freitag quer in Europa unterwegs. Die eigenen Familie und Freunde lebten in einer anderen Stadt, sie selbst wohnte erst seit kurzem in Frankfurt und hatte noch keine Kontakte knüpfen können. Nach wochenlangen schlaflosen Nächten und einer 24/7 Kinderbetreuung war sie zunächst physisch zusammengebrochen und dann auch seelisch am Ende. Diese Geschichte hat mir damals in der Seele weh getan. Und es hat mir einmal mehr deutlich gemacht, dass soziale Isolation insbesondere für Frauen eine zusätzliche Gefährdung ist, weil ständige Verfügbarkeit so selbstverständlich ist.
3 x Pflege = 1 x Burnout
Eine andere Schlüsselsituation habe ich selbst erlebt. Eigentlich handelt es sich dabei um 7 Jahre, in denen ich zunächst meine Patentante und im direkten Anschluss meine alten Eltern in ihrer letzten Lebensphase begleitete. Obwohl ich selbst nicht mit der häuslichen Pflege befasst war, blieb auf die Entfernung Frankfurt <-> Hamburg genug zu tun: angefangen von Arztterminen über die Haushaltsauflösung, über finanzielle Fragen bis hin zur Kommunikation mit dem Pflegeheim und Behörden. Von der emotionalen und psychischen Belastung im Kontext von „Krankheit – Sterben – Tod“ einmal ganz abgesehen. Ich habe das damals sang- und klaglos gemacht. Auch weil es keine echten Alternativen gab: ich habe weder Geschwister noch gab es andere Verwandte, die parat gestanden hätten. Während der Zeit ging es mir leidlich gut damit, auch fand ich immer wieder praktische und mentale Unterstützung im Freundeskreis.
Im Rückblick mußte ich feststellen, dass ich nach dem Tod meiner Mutter über 3 Jahre brauchte, um wieder in meine alte Kraft zurückzufinden. Auch hatte ich während der Betreuungszeit weder Kapazitäten für eine Partnerschaft noch für mein berufliches Vorankommen. Diese gesundheitlichen, persönlichen und wirtschaftlichen Einschränkungen waren mir vormals nicht bewusst.
Learnings
Nun gehöre ich zu den Menschen, die aus solchen Erfahrungen ihre Schlüsse ziehen:
Selbstoptimierung ist keine Lösung.
Es steht für mich außer Frage, dass die üblichen Empfehlungen aus dem Zeitmanagement und Resilienztraining für Frauen nur begrenzt taugen. Wenn Kinder oder kranke Angehörige auf Unterstützung warten, kommt frau mit Selbstoptimierung nicht weiter. Denn kleine Kinder können sich ebenso wenig allein versorgen wie eine pflegebedürftige Person – und beides lässt sich weniger leicht delegieren wie etwa das Putzen an eine Haushaltshilfe. Viele Menschen möchten insbesondere die zu leistende Erziehungs- und Beziehungsarbeit selbst wahrnehmen. Und immer wieder sind es die Mütter, Ehefrauen, Töchter, Schwiegertöchter und Schwestern einer Familie, die diese Sorgearbeit wahrnehmen, auch, weil es gesellschaftlich von ihnen selbstverständlich erwartet wird und es zudem extrem konfliktbehaftet ist, sich dieser Verfügbarkeit zu entziehen. Auf der Strecke bleibt die Resilienz der Frauen.
Mental Load bleibt eine Last
Natürlich gibt es die Möglichkeiten der Kinderbetreuung – solange dies von keiner Pandemie eingeschränkt wird – oder die ambulante Pflege. Die Unterstützung durch Dritte ist auch eine finanzielle Frage, nicht jede Familie kann dies leisten. So wird beispielsweise der überwiegende Teil = 80 % der pflegerischen Leistung in Deutschland privat wahrgenommen, und zwar überwiegend von den Frauen in der Familie. Sie „Kümmern“ sich nicht allein die anfallenden Arbeiten wie Hausarbeit, Einkaufen oder Körperpflege, sondern haben auch alle organisatorischen Erfordernisse der zu pflegenden Person im Blick, zum Beispiel Arzttermine, Finanzen, Geburtstage und Kontakte zu Freunden. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass dies dem Führen eines zweiten Haushaltes gleichkommt. Diese als Mental Load bezeichnete mentale Verfügbarkeit nimmt keine Pflegedienst ab.
Sorgearbeit ist lebenslang unbezahlte Leistung
Die familiären Aufgaben, die viele Frauen ganz selbstverständlich übernehmen, erfordern zumindest den teilweisen Verzicht auf berufliches Engagement. Dabei ist es nicht ungewöhnlich, dass die Phase der Kindererziehung fließend in die Phase der Pflege kranker Angehöriger übergeht. Dies führt dazu, dass Frauen während ihrer gesamten erwachsenen Lebenszeit mit der Sorge um andere beschäftigt bleiben, oft ohne jeglichen finanziellen Ausgleich im Zuge von Eheverträgen oder Erbschaften. Von mangelnder sozialer Anerkennung ganz zu schweigen.
In der Folge ist die dauerhafte Übernahme der Sorgearbeit der Weg in die wirtschaftliche Abhängigkeit. Fehlendes eigenes Einkommen limitiert den Gestaltungsspielraum im Leben ebenso wie es zu geringen Altersrenten führt.
Resilienz für Frauen – Action Plan
Immer wieder erlebe ich in meinen Coachings, wie Frauen sich aufreiben zwischen den vielfältigen Anforderungen und gleichzeitig dauerhaft persönliche Nachteile in Kauf nehmen. Die Suche nach dem Ausweg kommt dabei der Quadratur des Kreises gleich. Jede Lebenssituation ist einzigartig und braucht eine individuelle Strategie. Im Laufe der Zeit hat es sich bewährt, folgende Anknüpfungspunkte zu berücksichtigen:
Überholte Rollenbilder über Bord werfen
Wenn Du etwas ändern willst, mußt Du etwas anders machen.
Dieser Grundsatz im Coaching weist darauf hin, dass der Abschied von Denkschablonen elementar ist. Wer an der tradierten Vorstellung des Heimchens am Herd festhält, wird keine Eigenständigkeit erreichen. Es kommt zunächst einmal darauf an, die eigenen Konzepte und Prägungen zu hinterfragen und sie durch nützlichere zu ersetzen. Mit diesen neuen Überzeugungen vor Augen lassen sich Wege zu mehr Resilienz finden. Ein hilfreiches Tool ist Biografie- und Aufstellungsarbeit, lies mehr dazu in meinem BLOG „DRAMA & KARMA: WIE DIE FAMILIENBIOGRAFIE DEIN LEBEN BEEINFLUSST„.
Gesund bleiben
Ohne Gesundheit ist alles nichts.
Schon vor der Pandemie war das eigene Wohlbefinden vielen Frauen wichtig. So werden die Aus- und Fortbildungen in Präventionsmethoden wie etwa Yoga, Meditation, Wellness und Spiritualität vorrangig von Frauen besucht. Gleichzeitig sind Frauen bereit, ihr eigenes Wohlergehen zurückzustellen, sobald ihre Familie und andere nahestehende Personen nach Unterstützung rufen. Diesen Bedürfnissen unreflektiert nachzugeben führt im Extremfall dazu, dass Belastungsgrenzen überschritten werden und die eigene Gesundheit leidet. Mit Achtsamkeit orientierten Methoden wie Yoga und Meditation wirkst Du Stressbelastung entgegen und bleibst Du in Deiner Kraft. Ich biete fortlaufend Online-Kurse und Workshops an, die Termine findest Du hier.
Die Finanzen im Blick behalten
Ohne Moos nix los.
So wie die eigene Gesundheit Basis unserer Schöpferkraft ist, sind finanzielle Mittel nötig, um ein Leben nach eigenem Gusto zu führen. Daher ist es wichtig, neben dem Wohlbefinden auch das Bankkonto im Blick zu behalten. Dies gilt insbesondere dann, wenn Frau sich für Kinderbetreuung oder Pflege und die damit verbundene Sorgearbeit entscheidet. Ein finanzieller Ausgleich wird von Fall zu Fall und von Familie zu Familie unterschiedlich sein. Ein erster Schritt ist es, sich die Situation vor Augen zu führen und die Notwendigkeit zur Sprache zu bringen, um gemeinsam nach Lösungen zu suchen.
Keine schafft es allein
Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind aufzuziehen.
Was für die Kindererziehung gilt, gilt gleichermaßen für die Pflege kranker Menschen. Es braucht ein Support-System, das heißt ein soziales Netz, das gemeinsam die unterschiedlichen Aufgaben der Sorgearbeit wahrnimmt. Die Entwicklung hin zur Kleinfamilie und die zunehmende Mobilität haben dazu geführt, dass der vor wenigen Generationen noch selbstverständliche familiäre Zusammenhalt schon allein aus organisatorischen Gründen immer weniger möglich ist. Wer versucht, ohne weitere Unterstützung Kinder großzuziehen oder häusliche Pflege zu leisten, landet über kurz oder lang in der Überforderung. Deshalb empfehle ich, sich frühzeitig Gedanken zu machen, auf welches soziale Netz – bestehend aus Familie, Freunden und professionellen Dienstleistern – zurückgegriffen werden kann. By the way, es braucht nicht nur eine Strategie, sondern auch Zeit, ein solches Netzwerk aufzubauen, zu pflegen und zu erhalten.
Resilienz für Frauen durch Solidarität
Gesellschaft beginnt dort, wo Familie aufhört.
Aus der Resilienzforschung ist bekannt, dass Menschen, die eine schwere Krise überwunden haben, sich häufig für gesellschaftliche Themen engagieren. Es setzt jedoch die entsprechende mentale Kraft voraus, sich über das eigene Leben hinaus zu engagieren. Gerade die Zeit der Pandemie hat viele Familien, insbesondere Frauen, über die Grenzen der Belastbarkeit hinaus geführt. Da bleibt dann kaum noch Power, die Stimme in eigener Sache zu erheben. Deshalb brauchen wir einen gesellschaftlichen Schulterschluss, um strukturelle Ungerechtigkeiten zu überwinden. Wenn Du über Kapazitäten verfügst, schaue, für welche Initiative Du Dich engagieren magst.
Weiterführende Tipps
„Resilienz für Frauen zwischen Familienverantwortung und Beruf“
Mein Webseminar „Resilienz für Frauen zwischen Familienverantwortung und Beruf“ für die Spitzenfrauen BW im November 2022 kam gut an – hier ein Auszug aus dem Feedback:
- Das Thema ist hochaktuell. Frau Reiche hat ganz klar die wichtigen Punkte zusammengefasst.
- Die möglichen Strategien geben mir persönlich eine willkommene Hilfestellung im Alltag.
- Visuelle Darstellung und offene/gut verständliche Präsentation
- einfache Präsentation mit deutlichen Botschaften
Unter folgendem Link kann die Aufzeichnung des Webseminars abgerufen werden.
Buchempfehlungen
Franziska Schutzbach „Die Erschöpfung der Frauen – Wider die weibliche Verfügbarkeit“, Droemer Knaur 2021
Patricia Cammarata „Raus aus der Mental Load-Falle“, Beltz Verlag 2020
Ein sehr spannender und wahrer Artikel! Danke dir!!
Birgitta
Danke Birgitta – ich finde, es ist auch sehr ein spannendes Themenfeld!