Warum ist Entschleunigung so ein wichtiges Thema?
Wir befinden uns aktuell in einer Phase tiefgreifender Veränderungen, die in vielerlei Hinsicht das Selbstverständnis des Einzelnen ebenso wie das Wirtschaftsgeschehen und das gesellschaftliche Gefüge betreffen.
Im Berufsleben sorgen flexible Arbeitszeiten, mobile Einsatzorte und die zunehmende Informationsflut dafür, dass viele Menschen ihre Arbeit nur noch selten zu unterbrechen. All dies löst dann bei ihnen das „Hamsterrad“-Gefühl aus, sie fühlen sich orientierungslos, getrieben und kommen nicht mehr zur Ruhe. In der Folge steigen die Krankenstände, die Mitarbeiterzufriedenheit sinkt ebenso wie die Qualität der geleisteten Arbeit. Selbständige oder Unternehmer tendieren hingegen zur Selbstausbeutung bis hin zur völligen Erschöpfung und gefährden damit ihre Existenzgrundlage.
Auf der Unternehmensebene machen die fortschreitende Digitalisierung und die dadurch zu erwartenden Disruptionen die kontinuierliche Adjustierung von Organisationsstrukturen, Arbeitsprozessen bis hin zur strategische Ausrichtung notwendig. Die Komplexität und die Schnelligkeit der zu treffenden Entscheidungen nimmt zu, „agile Führung“ ist gefragt und erfordert eine fortlaufende Anpassung an die wirtschaftliche Entwicklung. Für das Management kommt es darauf an, nicht von diesen Umständen getrieben zu werden, sondern das Unternehmen noch mit ruhiger Hand und strategischem Weitblick zu führen.
Welche Gefahren sehen Sie, falls der Entwicklung nicht Rechnung getragen wird?
An dieser Stelle möchte ich den Formel 1 – Weltmeister Fernando Alonso zitieren:
„Wenn man einen Unfall hat, dann weil man zu viel pusht.“
Wenn wir es versäumen, unser Leben – als Individuum sowie als Unternehmen und Gesellschaft – zu entschleunigen, werden wir aus der Kurve getragen, im Zweifel kommt es zu einem Unfall mit ernsthaften Folgen. Um in der Metapher des Rennfahrers zu bleiben: Nur derjenige,
- der erkennt, dass er auf eine Kurve zurast,
- es dann schafft, rechtzeitig auf die Bremse zu treten und
- nicht zu früh wieder Gas gibt,
wird sicher und als erster durchs Ziel kommen. Es geht also darum, die Fliehkräfte richtig einzuschätzen und das Fahrverhalten zu optimieren. Den wenigsten ist es in die Wiege gelegt, sich auf diese Art durch das Leben zu steuern. Vielmehr erfordert ein gesunder und zugleich effizienter Lebens- und Arbeitsstil eine systematisches Training, idealer Weise unter Begleitung eines professionellen Coachs.
Welchen Beitrag können Unternehmen zur „Entschleunigung“ der Mitarbeiter leisten?
Als gesunde Gegenreaktion auf die zunehmend rasante Arbeitswelt sehnen sich immer mehr Menschen nach „Entschleunigung“, es wächst der Wunsch nach Auszeiten für Ruhe und Entspannung bis hin zur Reduzierung der Arbeitszeit und dem Einlegen von Sabbaticals. Flexible Arbeitszeitmodelle bieten den geeigneten Rahmen, dass Beschäftigte ihren individuellen Bedürfnissen Rechnung tragen können.
Desweiteren braucht es eine neue Führungskultur, die das Spannungsfeld von einerseits flexiblen, individuellen Arbeitszeiten und andererseits vorgegebenen Servicelevels und fixen Ablaufprozessen bewältigt. Was sich für viele Führungskräfte wie eine Quadratur des Kreises anhört, ist nichts anderes als die Herausforderung, vor der auch die Mitarbeiter stehen: die Anpassung des eigenen Verhaltens an veränderte Rahmen- und Arbeitsbedingungen.
Für die Führungskräfte bedeutet dies, sich von weit verbreiteten Kontrollmechanismen zu verabschieden und ihren Teams die Fähigkeit zur Selbstorganisation zuzutrauen. Mit dieser konstruktiven Einstellung lässt sich auch der allgegenwärtigen Sorge vor dem digitalen Fortschritt begegnen. Wie es der Zukunftsforscher Matthias Horx unlängst formulierte: „Disruption entsteht immer dann, wenn alte Systeme träge, selbstgerecht und zukunftsblind werden.“ Da, wo sich Arbeitszeiten flexibilisieren und digitales Arbeiten Einzug hält, sind Führungskräfte gefordert, sich von einem überholten Top-down-Führungsverständnis und rigiden Vorgaben zu verabschieden. Nur dort, wo Mitarbeiter die Möglichkeit haben, eigenständig und flexibel zu agieren, sind künftig Arbeitsqualität und Produktivität aufrecht zu erhalten.
Auszug aus dem Interview für das Journal des „Circle of Excellence“ von Stéphane Etrillard, Ausgabe vom 30.09.2017