Kulturwandel beginnt im Kopf
Das folgende Interview habe ich am 24. April 2018 mit Frau Dr. Lenz geführt. Anlass war ein Gespräch über den zunehmenden Fachkräftemangel im gewerblichen Sektor. Ich wollte gern von ihr wissen, wie sie die künftige Entwicklung aufgrund des technologischen Fortschritts und der Auflösung konventioneller Strukturen einschätzt.
Meine Gesprächspartnerin
Dr. Catharina Lenz
Apleona GmbH, Neu-Isenburg/Frankfurt
Leiterin HR für Recruiting, Employer Branding und Talentmanagement
Telefon: +49 6102 45-4000
Mail: catharina.lenz(a)apleona.com
www.apleona.com
XING: https://www.xing.com/profile/Catharina_Lenz/cv
LinkedIn: https://www.linkedin.com/in/dr-catharina-lenz-61339396/
Dr. Catharina Lenz verantwortet bei Apleona u.a. die Einstellung neuer Mitarbeiter. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder. Als studierte Soziologin promovierte sie zum Thema E-Learning und bekleidete verschiedene Positionen im Bereich HR und HR Development.
Apleona ist ein in Europa führender Immobiliendienstleister mit Sitz in Neu-Isenburg bei Frankfurt am Main. Fast 20.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in mehr als 30 Ländern betreiben und managen Immobilien aller Assetklassen, bauen und rüsten sie aus, betreiben und warten Anlagen und unterstützen viele Kunden unterschiedlichster Branchen bei Produktion sowie Sekundärprozessen.
Liebe Frau Dr. Lenz, zunächst möchte ich gern wissen, welche Bedeutung hat Entschleunigung für Sie?
Für mich ist Entschleunigung das Gegengewicht zur ständigen Erreichbarkeit. Es hat für mich auch etwas mit Gesundheit zu tun: als ein Mittel, um den Körper zu stärken, der durch Stress viel anfälliger wird.
Worauf kommt es Ihnen dabei im Berufsalltag an?
Es geht mir darum, bewusst Pausen zu nutzen und achtsamer mit mir umzugehen. Die kurzen Auszeiten erlauben mir, mich zu reflektieren im Sinne von „Ist es alles richtig, was hier mache?“ Dabei kann dann durchaus heraus kommen, dass ich auch einmal NEIN sage – überhaupt ist NEIN ein wichtiges Wort!
Wie gut gelingt es Ihnen, diese Pausen im beruflichen Alltag einzuhalten?
Nach meiner Erfahrung ist es etwas, das in den Arbeitsstil integriert werden muss. Entscheidend ist es, sich die Notwendigkeit von Pausen immer wieder ins Bewusstsein zu rufen und kontinuierlich welche zu nehmen. Das ist kein Zustand, den man einmal erreicht hat, sondern einer, der ständig wieder aufs Neue hergestellt werden muss.
Wenden wir einmal den Blick hin zu den Effekten, die in Ihrem beruflichen Umfeld für ein hohes Arbeitstempo sorgen – was sind die wesentlichen Beschleunigungsfaktoren?
Da ist zum einen der Mangel an Fachkräften. Apleona hat derzeit rund 600 offene Stellen, überwiegend im gewerblichen Bereich. Das bedeutet, dass viel Arbeit auf weniger Schultern lastet. Die Arbeit lässt sich nicht weg diskutieren, sie ist da und muss getan werden.
Hinzu kommt die permanente Erreichbarkeit, durchaus über die normale Arbeitszeit hinaus. Häufig haben Mitarbeiter, und da nehme ich mich selbst nicht aus, die Einstellung, die Anforderungen der Chefs schnellstmöglich bedienen zu müssen. Dies geht einher mit der vorauseilenden Annahme „Der will das sofort in höchst möglicher Qualität und in vollem Umfang“, ohne abgeklärt zu haben, ob es tatsächlich so gewünscht wird bzw. erforderlich ist. Diese innere Haltung mündet in den Automatismus, sämtliche Aufgaben prompt abzuarbeiten und füttert damit wiederum die Erwartungshaltung der Führungskräfte – ein Teufelskreis, den es zu hinterfragen gilt.
Aus persönlicher Erfahrung zählt für mich ebenso der Spagat zwischen Arbeit und Privatleben dazu, den viele Frauen in Führungspositionen leisten, insbesondere Mütter: Einerseits geht es darum, dem Job gerecht werden, mit dem bestehenden Leistungsdruck umzugehen. Andererseits möchte ich der Familie gerecht werden. Dann geht es zu Hause in anderer Form ebenso weiter wie im Job. Es ist eine komplett andere Rolle, aber auch hier will und muss ich wieder abliefern. Wir haben in Deutschland leider immer noch die Situation, dass wir in vielen Unternehmen nicht von familienfreundlichen Arbeitsplätzen sprechen können.
Die Familie sind für die meisten Menschen die wichtigsten Beziehungen, die lassen sich nicht komplett wegorganisieren und das möchte man ja auch gar nicht. Deswegen empfinde ich die Debatte um die Kinderbetreuung häufig sehr verkürzt, denn die allein löst ja den von Ihnen angesprochenen Spagat vieler Eltern nicht auf. Wie meistern Sie das?
Mein Mann und ich haben uns das im Laufe der Jahre erarbeitet. Wir möchten zusammen mit den Kindern eine gute Zeit haben. Die Herausforderung besteht für mich darin, zu Hause den richtigen Grad an Aufmerksamkeit zu halten. Ich bemühe mich darum, die Arbeit konsequent ausgrenzen. Dabei hilft mir die räumliche Entfernung, ich nutze den Arbeitsweg zum Abschalten. Das ist Zeit nur für mich, die mir hilft, um Distanz zu schaffen. Manchmal pflege ich währenddessen die Kontakte zu Freunden und telefoniere. Auch wenn ich die Fahrzeit für mich nutze, bin ich letzten Endes zwar immer noch irgendwie gestresst, aber wenn ich dann zu Hause ankomme, kommt mein privates Leben.
Lassen Sie uns auf einen anderen Beschleunigungseffekt, den Sie angeführt haben, zurückkommen: den Fachkräftemangel. Es wird ja häufig kolportiert, dass in Folge des technischen Fortschritts vor allem einfache Tätigkeiten im gewerblichen Bereich wegfallen werden – wie schätzen Sie das ein?
Ich bin davon überzeugt, dass sich nicht alle Tätigkeiten von Maschinen erledigen lassen. In Folge des digitalen Fortschritts werden Gewerke und Handwerksberufe anspruchsvoller. Dies wird sich auch auf die Ausbildungsberufe auswirken. Überhaupt haben wir einen Nachholbedarf an gut qualifizierten jungen Leuten, egal ob es sich dabei um Abiturienten oder Realschüler handelt.
Ist die Überlastung durch die unbesetzten Stellen nur ein Übergangsphänomen? Wird die Automatisierung Entlastung schaffen?
Nur zum Teil. Trotz Robotern braucht es immer noch die Menschen, die qualifizierte Tätigkeiten wahrnehmen. Die Jobs werden sich verändern, die Berufsbilder entwickeln sich weiter. Das geht einher mit breiteren Produktpaletten und immer mehr individualisierten Angeboten. Das Standardprodukt der Stunde, das der Kunde einem prompt abnimmt, gibt es nicht mehr. Auch geht der Kunde andere Wege: er lässt sich beraten, schließt wohlmöglich anderswo online ab. Für uns bedeutet dies, dass wir anders als bisher verkaufen müssen. Wenn auch der Kunde transparenter ist als je zuvor, so ist er auch informierter und stellt höhere Ansprüche.
Das bringt mich zu den Schlüsselkompetenzen der Zukunft. Auf welche Fähigkeiten oder Qualifikationen kommt es künftig an?
Ganz grundsätzlich, über alle Altersgruppen, Tätigkeiten und Funktionen hinweg, müssen wir lernen, in der schnelllebigen Welt zurechtzukommen. Also: Entschleunigung üben. Bei den jungen Nachwuchskräften kommt es vermehrt auf die Entwicklung sozialer Kompetenzen und kommunikativer Fähigkeiten an. Die jüngere Generation kommuniziert aufgrund von Social Media weniger face-to-face, auch werden Texte kaum noch Wort für Wort geschrieben, sondern über die Sprachfunktionen der digitalen Endgeräte diktiert. Da braucht es einige Übung, belastbare persönliche Beziehungen und Kontakte aufzubauen. Das ist entscheidend für eine gute Zusammenarbeit in den Teams, aber natürlich auch für den Kundenkontakt.In Führungspositionen stellt sich zunehmend die Frage einer veränderten Informationsweitergabe. Es braucht mehr denn je eine realistische Einschätzung, was für den Mitarbeiter relevant ist und was ihn unnötig belasten würde.
Unternehmen entwickeln sich offensichtlich mehr und mehr weg von den bisherigen Hierarchien hin zu Netzwerkstrukturen. Ist das für Sie noch Zukunftsmusik oder schon gelebte Wirklichkeit?
Ich sehe diese Entwicklung langsam kommen, allerdings unausweichlich. Wir haben bei Apleona eine weitgehend männerlastige Belegschaft mit einem relativ hohen Durchschnittsalter. Die jüngeren Mitarbeiter haben eine andere Erwartungshaltung an die Zusammenarbeit im Team und an die Führung. Hinzu kommt, dass bei ihnen die persönliche Work-life-balance mehr im Vordergrund steht – verkürzt gesagt: für sie zählt ein insgesamt anderes Wertesystem. Das drückt sich auch in ihrem Wechselverhalten aus, sie sind weniger treu, und der veränderte Arbeitsmarkt macht einen Jobwechsel inzwischen recht leicht.
Auf der anderen Seite sind viele Führungspositionen mit Vertretern der Baby-Boomer-Generation besetzt, die selbst eine ganz andere Lebensweise haben und teilweise die nachfolgenden Generationen nicht verstehen können. Aktuell sehe ich die größte Herausforderung bei dem Kulturwandel in den Köpfen.
Wie könnte dieser gelingen?
Die Führungskultur ändert sich nur über einen längeren Zeitraum hinweg. Zunächst einmal braucht es erst einmal die Bereitschaft, die Kultur tatsächlich zu verändern und nicht nur darüber reden. Dabei macht eine Führungskraft allein noch keinen Frühling, es braucht ein geschlossenes Vorgehen in der Leitungsebene. Vor allem müssen Führungskräfte Mitarbeiter vom Unternehmen begeistern und den Sachen auf den Grund gehen, die Begeisterung verhindern. Dazu braucht es eine Feedback-Kultur, die die Rückmeldungen der Mitarbeiter nicht belächelt, sondern ernst nimmt. Es braucht eine Haltung, in der Mitarbeiter ein wertvolles Gut sind: was sie erzählen, ist zu 99% wahr.
Worauf wird es künftig ankommen?
Ich bin der Meinung, dassdie Qualität der Leistung künftig an anderen Aspekten fest gemacht werden muss als bisher. Wir brauchen beispielsweise mehr flexible Arbeitskonzepte. Dem entgegen steht die häufige Annahme, dass dem Mitarbeiter das Engagement fehlt, weil er im Home Office arbeitet oder dezentral eingesetzt ist. Wer nicht vor Ort präsent ist, wird tendenziell negativ wahrgenommen. Da höre ich dann den Einwand: „Die Leute haben zu wenig Bezug zu mir, sie sind nicht erreichbar und nicht verfügbar.“
Hier zeigt sich, dass künftig mehr Dialog miteinander gepflegt werden muss. Da, wo kollaborative Konzepte und interdisziplinäre, abteilungsübergreifende Zusammenarbeit einziehen, braucht es andere Leistungsmaßstäbe und ein anderes Kommunikationsverhalten als bisher. Und das nicht nur top-down, das ist keineswegs eine Einbahnstraße. Momentan ist das Mitarbeiterengagement noch recht niedrig, vielmehr gibt es eine Erwartungshaltung an die Führung, dass dort alles geregelt wird und man nach Vorgabe abarbeitet.
Die Digitalisierung bringt mit sich, dass Geschäftsmodelle im Zweifel schnell anzupassen sind. Einer Mannschaft, die gewohnt ist, sehr stabil zu arbeiten, fällt es wohlmöglich umso schwerer, flexibel zu agieren. Wie ist aus Ihrer Sicht mit disruptiven Unwägbarkeiten umzugehen? Oder anders gefragt, was passiert, wenn nichts passiert, wenn man dem nicht begegnet?
Gefahren sehe ich, wenn Risiken übersehen oder falsch eingeschätzt werden. Wenn aufgrund des hohen Arbeitstempos zu einer Überhitzung der Organisation kommt und deswegen die Fehlerhäufigkeit und damit auch die Kosten steigen. Dies könnte auch eine Folge einen chronischen Überlastung der Mitarbeiter sein und eine negative Außenwirkung nach sich ziehen.
Dieser hohe Druck würde dann auf mehreren Ebenen einwirken: das Unternehmen krankt, die Kosten steigen, es kommt zu einer negativen Außenwirkung aufgrund schlechter Leistung. Hohe Arbeitsmengen oder schlechte Stimmung führen zu stressbelastung. Wie ließe sich einer derartigen Überhitzung der Organisation vorbeugen?
Ich denke, um dem entgegenzuwirken, braucht es einen festen Rahmen, in dem sich die Mitarbeiter flexibel bewegen können. Ein Rahmen, der Orientierung stiftet und Unsicherheiten vorbeugt. Menschen benötigen einerseits Zeit, um sich einzulassen und Vertrauen aufzubauen. Es braucht Zeit, gemeinsam ein neues Verhalten und eine neue Kommunikationskultur zu entwickeln.
Der Kommunikation kommt künftig eine herausgehobene Bedeutung zu. Es wird, insbesondere auf Seiten der Führungskräfte, mehr und mehr darauf ankommen, mit ruhiger Gelassenheit an die Dinge heranzugehen. Überlegt den Gefahren zu begegnen und auch vor größeren Veränderungen nicht zurückzuschrecken. Größere Projekte in kleine Teilschritte zu zerlegen, hilft dabei, sie überschaubarer zu machen und flexibler zu händeln als bisher.
Die Mitarbeiter sind aufgefordert, NEIN zu sagen, wenn die Auslastung gegeben ist. Führungskräfte müssen dann den signalisierten Belastungsstopp ernst nehmen und nicht als Arbeitsverweigerung bewerten.
Und last but not least: Was ist Ihr persönlicher Entschleunigungstipp?
Ich mache gern einmal meine Mittagspause außer Haus, der räumliche Wechsel tut gut. Die Wochenenden gehören nur meiner Familie. Wir schaffen uns ruhige Zeiten und genießen es, einmal gar nichts zu unternehmen. Es hat sich als ein schönes Ritual entwickelt, als Familie gemeinsam zu kochen.